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Vor 40 Jahren - Abstiegsdrama im Lößnitztal

Blick ins Auer Stadion nach dem Schlußpfiff von Schiedsrichter Scheurell am letzten Spieltag der 29. Oberligasaison von Wismut Aue 1980/81. Foto: Burg Archiv

Vor 40 Jahren am 30. Mai 1981 pilgerte anscheinend das ganze Erzgebirge ins Auer Otto-Grotewohl-Stadion um ihre Veilchen, die sich am letzten Spieltag der Saison 1980/81 in allergrößter Not befanden, beizustehen. Die Nerven der 18.000 Zuschauern und der Wismut Akteure waren zum zerreißen gespannt. Denn ihre Wismutelf war in eine äußerst prekäre Situation geraten. Ein Erfolg im letzten Saisonspiel gegen den 1. FC Magdeburg konnte nur dann den Klassenerhalt sichern, wenn Böhlen oder Zwickau nicht gewinnen. „Die Zuschauer standen von Anfang an hinter uns und haben uns den Rücken gestärkt. Das war der 12. Mann den wir gebraucht haben um gegen die Nationalspieler von Magdeburg zu bestehen. Bei denen ging es ja noch um den 3. Platz“. Dies sagte der damals 22-jährige Erhard Süß von Wismut Aue, wenn er heute 40 Jahre später gefragt wird: Wie war das damals? Sofort erinnerte er sich auch an den enormen Zuschauerzuspruch im Lößnitztal, „...denn daran haben wir in der Mannschaft nicht im geringsten gerechnet. Eigentlich waren wir schon abgestiegen. Doch dann kamen wir wie Phönix aus der Asche nach oben. Als ich die Treppe runter das gefüllte Stadion sah, konnte ich es nicht glauben. Ich hatte das ja noch nie gesehen“, ist Erhard auch heute noch überwältigt.

Dabei schien vor fünf Wochen das Abstiegsgespenst schon aus dem Auer Lößnitztal gejagt. Mit 4-1 lieferte man Ende April 1981 zu Hause gegen HFC Chemie die beste Saisonleistung ab. Platz 12 mit 16 Punkten und vier Punkte Vorsprung auf Sachsenring und Riesa, die auf den beiden Abstiegsrängen 13 und 14 rangierten, was sollte das noch groß schiefgehen? Ging es aber doch, weil Wismut die drei nächsten Spiele verlor. Eine 2-3 Niederlage im Derby in Zwickau, folgte eine 0-2 Pleite gegen Lok Leipzig im heimischen Stadion um dann am vorletzten Spieltag beim FCV in Frankfurt/Oder gar mit 1-5 unterzugehen. „In Frankfurt/Oder sahen wir nie gut aus. Es war natürlich ein deutliches Ergebnis, obwohl da auch zwei Sonntagsschüsse von André Jarmuszkiewicz dabei waren“, so Süß der in Frankfurt/O. 90 Minuten auf dem Platz stand.

Wismut Aue stand somit vor dem Finale zum zweiten Mal in der Saison auf einem Abstiegsplatz und stand am Scheideweg zwischen Oberliga und Liga. Aus eigener Kraft war die Rettung nicht mehr möglich. Und das ausgerechnet vor ihrer 30-jährigen Jubiläumssaison in der Oberliga. Den Spielern wurde auch vorher mitgeteilt: Wenn es runtergeht müßt ihr wohl wieder arbeiten gehen. Die Abstiegsfrage mußte am letzten Spieltag gleich in vier Stadien geklärt werden. Stahl Riesa, mit 15 Punkten der Letzte in der Tabelle, war Gast beim Vierten Dynamo Dresden, die noch mit den dritten Platz liebäugelten und zu Hause ungeschlagen waren. Aue, Chemie Böhlen und Sachsenring hatten je 16 Punkte, wobei Wismut mit -27 das schlechteste Torverhältnis von diesen drei Mannschaften hatte. Bei Punktgleichheit ist im Abstiegskampf immer die Tordifferenz (Subtraktionsverfahren) ausschlaggebend. Gewinnen alle drei Mannschaften, muß also Aue erst einmal einen 6 Tore-Rückstand zu Zwickau und über fünf Treffer gegen Böhlen wettmachen. Sind zwei Mannschaften nicht nur punkt-, sondern sogar torgleich, dann schreibt die DFV-Wettspielordnung in diesem Fall ein Entscheidungsspiel zwischen beiden mit Hin- und Rückspiel vor. Gibt es auch nach der zweiten Begegnung noch immer keine Lösung, wird zuerst verlängert und dann das alles entscheidende Elfmeterschießen angesetzt. Keine Frage es knisterte im Lößnitztal.

Die Tabelle der DDR-Oberliga vor dem letzten Spieltag 1980/81. Foto: block-a.de


Mittendrin damals der junge Spieler Erhard Süß aus Schwarzbach bei Elterlein. „So richtig dran geglaubt haben wir eigentlich nicht, weil wir uns nicht vorstellen konnten das Böhlen sein Heimspiel gegen den HFC Chemie verliert. Am Donnerstag vor dem Magdeburg-Spiel holte mich Trainer Fuchs hoch ins Trainerzimmer: „Paß auf ich sage es dir heute schon, du wirst am Samstag von Anfang an spielen. In Frankfurt warst du noch mit unser Bester. Du spielst links, egal wer gegen dich kommt. Die werden dann wissen wer der Herr Süß aus dem Erzgebirge ist“, plauderte der heute 64-jährige über jene Zeit als wäre es gestern gewesen. „Und er sagte noch: Du mußt auch mal aus 20 Meter ruhig mal schießen, denn du hast einen guten Schuß – probiere es.“ Warum Aues Trainer Manfred Fuchs ausgerechnet auf den Youngster aus Schwarzbach setzte weiß Süß bis heute nicht. „Für mich war es natürlich toll. Es war aber schon ein Risiko mich einzusetzen mit gerade mal 4 Einsätzen zuvor in der Ersten Mannschaft, weil doch eigentlich gestandene Spieler da waren.“ Süß war seit dem Wintertrainingslager richtig bei der Ersten Mannschaft dabei und sollte an dieser herangeführt werden. „Gleich mein erster Einsatz beim BFC war natürlich vom Ergebnis schon ein richtiger Schock.“ Mit 1-5 gingen Erler und Co am 19. Spieltag in Berlin unter. Als einziger Mannschaft gelang Aue kein einziger Auswärtssieg – 3:23 Punkte in der Fremde sprechen Bände.
Aues Trainer Manfred Fuchs, der die Wismut Mannschaft nach vier Spielzeiten im Heimspiel gegen den 1. FC Magdeburg zum letzten Mal betreute, versuchte erst gar keine Untergangsstimmung auf kommen zu lassen: Natürlich geben wir uns nicht auf. Allerdings können wir es nicht mehr aus eigener Kraft schaffen. Es wird zu Hause gegen die Magdeburger sehr schwer, denn der FCM kämpft ja noch um eine Medaille.“ Die Bördestädter hatten in der Oberliga mit 57 Toren immerhin den zweitbesten Angriff.

Die Zwickauer dagegen, die vom 2. bis zum 24. Spieltag durchgehend auf einem Abstiegsplatz standen, hatten es in Rostock selbst in der Hand. Mit einem 1-0 Heimsieg über den Bezirksrivalen FCK schoben sie sich am 25. Spieltag an den Auer Veilchen vorbei und standen somit über den Strich. Aufsteiger Böhlen ebenfalls. Denn sie hatten mit dem HFC Chemie eine Mannschaft, bei sich an der heimischen Jahnbaude zu Gast, die jenseits von Gut und Böse war. Zwickau und Böhlen brauchten erst gar nicht zu schauen was die anderen beiden (Aue und Riesa) veranstalteten, denn sie brauchten nur zu gewinnen.

Wismut ging im Spiel gegen Magdeburg bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit um das Unmögliche noch zu erreichen. „Wir sind alle aus uns hinausgewachsen. Das die Zuschauer dann so hinter uns standen, haben wir natürlich auch gemerkt,“ so Süß, dessen freche Spielweise herzerfrischend und belebend wirkte. Das Risiko vom Trainer zahlte sich aus. Mit einem von Mewes abgefälschten Schuß aus 22 Metern überraschte er Torhüter Dorendorf im FCM-Tor zur Auer Führung in der 29. Minute. Es war sein erstes Oberligator im 5. Einsatz für Aue. Beinahe wäre ihm mit einem Effetschuß, zehn Minuten später sogar ein zweiter Treffer gelungen. „Ja da ärgere ich mich heute noch darüber“, kann sich der Torschütze zum 1-0 noch an dieser Szene erinnern. „Den wollte ich mit dem linken Fuß hoch ins Dreiangel spielen, aber ich war so aufgeregt. Der Ball ging schon in die Richtung, aber der Torhüter war noch mit den Fingerspitzen dran.“ Doch die Magdeburger, Bronze vor den Augen steckten keinen Pflock zurück. Gleich zweimal an den Pfosten, erst durch Mewes (Kopfball) und dann von Hoffmann (im Nachschuß) in der vierten Minute, zeigten die Absichten der Gäste nur allzu deutlich. Erler (32.) und Süß (36.) vollbrachten bei weiteren Schüssen und Kopfbällen von Hoffmann Rettungstaten auf der der Linie. „Da hatten wir auch das Glück als der Uli im Tor schon geschlagen waren und wir beide, der Holger und ich, richtig standen.“

Aues Trainer Manfred Fuchs war zum letzten Mal beim Spiel gegen den 1. FC Magdeburg im Einsatz auf der Trainerbank.


Zur Halbzeit Jubel in Aue und Rostock, denn Wismut und Sachsenring führten jeweils mit 1-0 und standen mit einen Punkt Vorsprung über den “Strich“. Enttäuschung dagegen schon in Böhlen im Stadion an der Jahnbaude. Ihr Trainer Hans Speth hatte nicht zu viel versprochen. Seine Schützlinge brannten gegen Halle bis zur 45. Minute ein sehenswertes Feuerwerk ab. So schlichen sie bedrückt, weil ohne Torerfolg, in die Kabine, wo die Nachricht von der Führung der Auer und Zwickau für einen weiteren Dämpfer sorgte. Riesa hielt zur Pause immerhin ein beachtliches 1-1 in Dresden, war aber immer noch letzter in der Tabelle.
Als der Ball in den Stadien wieder rollte schalteten, nicht nur in Aue, viele Zuschauer ihr mitgebrachtes Transisterradion ein und lauschten nebenher die Original-Konferenzschaltung der zweiten Halbzeit von Radio DDR I. Das war früher Alltag in den DDR Oberliga-Stadien denn Handys gab es ja noch keine und eine Anzeigetafel die die Zwischenstände der anderen Spiele anzeigte, gab es in Aue in dieser Form wie man es heute kennt auch nicht. Mundpropaganda war also das A und O im Stadion. Klappte aber prima. Wer kein Radio hatte drehte sich einfach zu seinen Neben- oder Vordermann und erfragte den Zwischenstand. Die meistgestellte Frage in der Zweiten Halbzeit in Aue war: Wie steht es in Böhlen? Doch wie würde es in Aue ausgehen? Auch Steinbach knallte die Kugel an Pfosten (66.) und Latte (82.), daß den Auern der Schreck in die Glieder führte. Zwar führten sie nach 70 Minuten durch einem Kopfballtreffer von Wolfgang Körner nun mit 2-0, doch nach dem Anschlußtreffer von Nationalspieler Streich (75.), aus stark abseitsverdächtiger Position, wollte jeder nur wissen was auf den anderen Plätzen passierte. Zwickau führte mit 3-0 in Rostock und auch Stahl Riesa sensationell mit 2-1 in Dresden. Als der HFC ebenfalls in der 75. Minute durch Krostitz in Führung ging und die frohe Kunde die Runde im Stadion machte, kroch der Minutenzeiger für die Auer Zuschauer und Spieler langsamer denn je. Ein Magdeburger Tor noch und

Der Torschütze zum 1-0 in der 29. Minute – Erhard Süß. Foto: Auer Programm gegen Magdeburg September 1981.

Aue wäre punktgleich mit Stahl Riesa und dann aufgrund des schlechteren Torverhältnisses abgestiegen. Wismut hielt den Magdeburger Druck stand. Als Schiedsrichter Klaus Scheurell die Partie abpfiff lief die Partie in Böhlen noch. Alle lauschten gebannt die Übertragung im Radio. Die Spieler hörten es stehend, sich gegenseitig umarmend, die erschöpftesten lagen auf dem Rasen, das Gesicht auf der Erde. Es wurde dann nach dem Schlußpfiff in Böhlen zur Gewißheit: Erzgebirge ohne Oberliga – das gibt es nicht. Einige Zuschauer hielt es nicht mehr auf ihren Plätzen, sie stürmten auf den Platz und beglückwünschten ihre Lieblinge. Kapitän Jürgen Escher: „Für uns war die Ausgangsposition am schwersten, weil wir es nicht allein schaffen konnten, Schrittmacherdienste brauchten. Vor der Pause spielten wir sehr gut, später vielleicht zu sehr auf Sicherheit bedacht. Als unser Trainer uns zurief, daß Halle in Böhlen führt, da wußte ich, jetzt schaffen wir es.“ Und der junge Erhard Süß erhielt einen Klaps nach den anderen für sein gutes Spiel und für sein so wichtiges Führungstor. „Ein Talent“, so lobte ihn Trainer Manfred Fuchs.

In Böhlen dagegen war grenzenlose Trauer. Es war nicht zu fassen. Die ganze Saison standen sie nicht einmal auf einem Abstiegsplatz und am Schlußtag erwischte sie es doch. Sie blieben aber auch in den letzten elf Spielen ohne Sieg. In Aue brach ein langer Abend an. In den Gaststätten des Erzgebirges wurde gefeiert. Auch nach 29 Jahren Oberligazugehörigkeit heißt es im nächsten Jahr: Glück auf der Steiger kommt . (Burg)


Aue in den 1980er Jahren - Histo Special
Geschrieben von Burg am 29.05.2021, 13:51   (1707x gelesen)